Was mir, zugegebenermaßen, lange Zeit ein Rätsel war. Daß die Waliser mit Songs wie 'Motorcycle Emptiness' und 'Design For Life' Hits von Format geschrieben haben, steht außer Zweifel. Was darüber hinaus aber kann der Auslöser für ein Gewese sein, das in solchen Ausmaßen auf der Insel wohl in den letzten zwanzig Jahren vor ihrer Auflösung nur zwei Bands widerfahren ist: THE CLASH und THE SMITHS, läßt man mal den auf Konzert-Tourismus beruhenden Kult um Phrasenfolkrocker wie NEW MODEL ARMY oder die LEVELLERS außer acht!? Parallelen gibt es zu beiden Erstgenannten, genaugenommen könnte man sogar von einer CLASH-SMITHS-Achse sprechen, zwischen deren Polen sich die Band bewegt. Anfang des Jahrzehnts mit ihrem Debütalbum 'Generation Terrorists' als zornige junge Männer, die sich selbst genausowenig wie ihre Instrumente beherrschten, vom provinziellen Blackpool aus losgezogen, um als toupierte, mit Kajal beschmierte Plüschleoparden die Metropolen unsicher zu machen, war der Gestus nicht nur hundertprozentig Punkrock, sondern auch mindestens 99prozentig THE CLASH: angefangen beim Arbeiterhabitus, endend bei bandinternen Mantras wie 'Never write a lovesong, never write a ballad' oder 'Jeder weiß, wie es ist, geliebt zu werden, aber noch lange nicht jeder weiß, was es heißt, richtig gehaßt zu werden.' - James: 'Natürlich war das albern, aber diese kindische, naive Haltung hat uns mit Energie versorgt.'
Dank zahlreicher Haßbriefe an Gott, die Welt, diverse Fernsehkanäle und natürlich den NME hatte Band Medienpräsenz galore, noch bevor sie einen Plattenvertrag zu Gesicht bekam. Der Kreuzzug richtete sich gegen die Rave-Szene als Kulmination von Kultur und Geld und fußte auf der Behauptung, daß eine Kultur des Geldes immer Hand in Hand mit der Selbstausbeutung der Arbeiterklasse gehe ... und so weiter und so fort. JOE STRUMMER, ick hör Dir trapsen. 'Zu dieser Zeit war es phantastisch, in einer Band zu sein. Es war tatsächlich spannend, Briefe an Karl Arsch zu schicken, um den Fernseher anzumachen und zu sehen, wie Tony Wilson sie vorlas.' Dieser Einsatz für die Arbeiterklasse war in der Tat mehr als bloße Attitüde und ging, wie der daraus resultierende selbst auferlegte Bildungsauftrag der Band, zurück auf die Universitätszeit in Swansea. Insbesondere Bassist Nick und Rhythmusgitarrist Richey galten schon damals als Außenseiter, die lieber büffelten, als mit Kommilitonen durch die Gemeinde zu ziehen. Sprach man Nicky Wire darauf an, pflegte der dann in vollstem Ernst Sätze wie 'Meine Mum und mein Dad haben hart gearbeitet, damit ich hier sein kann, und genau deshalb gehe ich nicht in die Uni-Bar, um mich zu besaufen.' Nick ist Außenseiter geblieben. Er lebt zurückgezogen mit Frau und Hund und verbringt seine Zeit mit Lesen, Schreiben, Fernsehen und Staubsaugen. Aufgrund seiner chronischen Flugangst verreist er nicht einmal. Zum Interviewtag im irischen Cork ist er mit der Fähre angereist. Der scheue Bassist mit dem zurückhaltenden Lächeln, der die Bühne nie ohne Sonnenbrille betritt, erweist sich im Gespräch zwar als schüchtern, jedoch keinesfalls als zugeknöpft oder gar abweisend. Seitdem Richey James am ersten Februar 1995 aus dem Londoner Embassy Hotel spurlos verschwand, ist Nicky für die Texte der Band zuständig. Gab es auf dem Vorgänger 'Everything Must Go' noch mehrere Lyrics von Richey, stammen die des gerade erschienenen Albums 'This Is My Truth Tell Me Yours' zum ersten Mal vollständig aus Nickys Feder.
James Dean Bradfield: 'Stücke wie 'Small Black Flowers That Grow In The Sky' gab es bereits, bevor es passierte. Sie wurden so, wie sie waren, für okay befunden - und zwar von vier Leuten. Richey kannte diese Songs. Er hat gehört, wie ich sie gespielt habe. Teilweise kannte er sogar schon Demo-Versionen. Die Texte, die er uns darüber hinaus gelassen hat, machen insgesamt ein Buch mit dreißig bis vierzig Gedichten aus, und als ebendas, als Gedichtband, werden wir sie früher oder später veröffentlichen. Richeys Texte mit MANICs-Musik zu belegen würde die Songs schon rein symbolisch emotional so aufladen, daß wir uns die Verantwortung, die wir damit für Teile unseres Publikums übernähmen, einfach nicht aufladen wollen. Richey hat uns seine Lyrics zusammengefaßt als ein kompaktes Stück Arbeit hinterlassen; ich glaube, er wollte, daß wir sie auch so veröffentlichen.' Tragischerweise beruht ein nicht unbeträchtlicher Teil des Kults, der heute um die MANICs betrieben wird, auf Richeys Verschwinden. Angesichts der teilweise hanebüchenen Gerüchte und Verschwörungstheorien, die in bestimmten Fankreisen zirkulieren, könnte man sogar von einem regelrechten 'Cult of Richey' sprechen. Nicky Wire: 'Was ich sehr traurig und zudem absolut unpassend finde. Das alles war für uns überaus schmerzhaft - schließlich sind wir seit Teenagerzeiten befreundet -, aber es hatte nie etwas Mysteriöses ... Vor allem hätte Richey nie gewollt, daß so ein Monster daraus wird. Wir sind uns in gewissen Dingen ziemlich ähnlich, auch ich neige dazu, mich zurückzuziehen und meine Melancholie zu pflegen. Bei Richey hatte dieser Hang, sein Leben unter dunklen Wolken zu verbringen, sicherlich deutlich manischere Züge als bei mir, aber ich weiß aus eigener Erfahrung, daß es manchmal unerträglich sein kann, wenn die Menschen einem das eigene Unglück nicht zugestehen wollen. Was meinst du, warum sich Kurt Cobain umgebracht hat? Er war erfolgreich, hatte Frau und Tochter, die ihn liebten - die Öffentlichkeit erwartete von ihm, glücklich zu sein. Man sprach ihm quasi das Recht auf Unglück ab! Das kann ein überzeugendes Argument sein, seine Existenz aufzugeben. Für Richey war es eins.'
Im Gegensatz zu z. B. JOY DIVISION, von denen sich nach deren Mutation zu NEW ORDER zahlreiche fanatische IAN CURTIS-Anhänger abwandten, bleiben den MANIC STREET PREACHERS ihre Fans erhalten, was sicherlich daran liegen mag, daß Richey James keinesfalls Mittelpunkt der Band und auch nie alleiniger Texter gewesen ist, aber auch daran, daß der Kult um die Waliser eben nicht ausschließlich auf den Kult um R. James zu reduzieren ist. Da ist deutlich mehr. Und was da ist, muß irgendwo zwischen James Dean Bradfield und Nicky Wire zu finden sein; Schlagzeuger Sean Moore hat an dem Zauber nicht wirklich Anteil. So sehr er allerdings im Hintergrund agiert, so wichtig ist der Mann zweifelsohne für das Gleichgewicht der Band. Einerseits war er von Anfang an einer der 'vier Freunde', andererseits Teil der perfekten Bandsymmetrie, die J. D. Bradfield passenderweise mal am Beispiel THE CLASH beschrieben hat: 'Da war immer eine geradezu magische Symmetrie zwischen ihnen, mit Joe, dem verbitterten, schartigen, tobenden Humanisten in der Mitte, den beiden wunderschönen Wingern an den Seiten und der menschlichen Drum-Machine im Rücken.' Wie wichtig die Symmetrie für die MANIC STREET PREACHERS war, macht auch heute noch jeder Auftritt der Band erfahrbar: Richeys Platz rechts von James bleibt weiterhin unbesetzt. Zwar verzichtet man mittlerweile auf seinen Mikroständer - das verbliebene Trio hat sich spätestens mit den Aufnahmen zum neuen Album mit dem Verlust des Gitarristen abgefunden -, die Symmetrie aber ist aus den Fugen geraten, oder - treffender - das Bandgefüge ist nunmehr ein asymmetrisches. Was der Band zugegebenermaßen ausgesprochen gut zu Gesicht steht: die MANIC STREET PREACHERS sind für eine Rockband alles andere als kompakt. Nickys Lyrics machen diese Entwicklung perfekt, nicht, daß sie sie komplettieren würden, nein, die Ahnung, daß die Idee dieser Band unvollendet bleiben wird, erhöht deren Sperrigkeit und damit auch deren Reiz. Wo R. James in seiner depressiven Wut trotz oder gerade dank aller Kierkegard- und Nietzsche-Zitate recht plakativ dichtete, pflegt Wire eine zwar nicht ganz so düstere, aber um mehrere (Keller-) Geschosse bereicherte Schreibe - und bringt die Band damit einen großen Schritt weiter an den SMITHSschen Pol der Achse. Fraglos hat der britische 'Melody Maker' recht, wenn er bemängelt, daß der Mann schon weniger abgeschmackte Zeilen als 'In the beginning, when we were winning / when our smiles were genuine' oder 'The world is full of refugees / they're just like you and just like me' (hat in der Tat was von 'Ebony & Ivory'-Lyrik) hervorgebracht hat, aber dem ursprünglich mal als Titeltrack gehandelten, in bester 'Motorcycle Emptiness'-Tradition stehenden Epos 'The Everlasting' (J. D. Bradfield: 'Das war uns dann allerdings doch etwas zu arrogant') kommen solche Zeilen gar nicht so schlecht zupaß. Wire hat eine eigentümliche Art, seiner schon recht MORRISSEYesken Art des gepflegten Selbstmitleids eine ganz eigene Qualität zu verleihen.
Seine Texte werden vor allem dann unsterblich, wenn er mittels Stories, welche die Geschichte schrieb - wie die von der Jüdin, die darum kämpft, das Stück Land wiederzubekommen, das man ihr raubte, um darauf ein Konzentrationslager zu erbauen (Auschwitz) -, verschlüsselt Persönliches erzählt. Bestes Beispiel: die erste Single 'If You Tolerate This, Your Children Will Be Next', die an der Oberfläche den Spanischen Bürgerkrieg thematisiert (im übrigen gar nicht so an den Haaren herbeigezogen, das Thema hat im britischen Politrock [siehe the CLASHs 'Spanish Bombs'] zu Recht Tradition). Bradfield: 'Das ist Folklore, mit der in Irland, England, Schottland und Wales bis zu einem gewissen Grad jeder aufwächst. Gerade in Nordengland haben nahezu alle in unserem Alter einen Großvater, der jemanden kennt, der im Spanischen Bürgerkrieg war.' Doch Wire hat hier nicht nur die Vergangenheit als Metapher für die Zukunft benutzt, er nutzt den geschichtlichen Rahmen zur eigenen Standortbestimmung: 'Es geht darum, daß wir es mögen, uns selbst in diesem kämpferischen links-orientierten Background verwurzelt zu sehen, und ach so gut darin sind, die Courage unserer Überzeugungen heraushängen zu lassen. Dabei sind sogar Leute aus demselben Background heraus los, um auf einer solchermaßen abstrakten Ebene zu kämpfen: in einem fremden Land, für etwas, das die eigene Nation nicht einmal peripher berührte. Der Kern des Songs ist, sich selbst zu fragen, wie kann ich, gerade als Lyriker mit einem politischen Standpunkt, noch den Kopf hoch halten, wenn ich einer Generation angehöre, die nicht die leiseste Ahnung davon hat, was es heißt, ein physisches Opfer für ein Ideal zu bringen, das keine Auswirkungen auf meine direkte Lebensumgebung hat.' MORRISSEY hatte es im übrigen deutlich leichter als James D. Bradfield: er sang seine eigenen Texte. Bradfield muß die überaus persönlichen Elaborate seiner beiden Flügelmänner - des vermißten und des verbliebenen - interpretieren, und er tut es, als entstammten sie seiner eigenen Agonie.
Von dieser allerdings ist während der abendlichen Aftershowparty auf der Herrentoilette nichts zu spüren. Zeigte sich während des Interviews eher Kollege Wire in Plauderlaune, so scheint Bradfield das Interview hier am liebsten fortsetzen zu wollen. Nicky Wire zieht die Einsamkeit des Hotelzimmer-WCs vor.
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